6.1.08 - Fahrraddiebe
“Anything serious? just a bicycle” ist das einzige was der ärmliche römische Plakatierer Antonio Ricci zu hören bekommt, als er sein gerade gestohlenes Fahrrad bei der Polizei zu melden versucht. Wenn der Polizist doch nur wüsste wieviel Antonio dieses Fahrrad bedeutet, dass es gar seine Existenzgrundlage ist! Später im Film, als Antonio nach einigen Stunden durch die Stadt hetzend immer noch verzweifelt auf der Suche nach den Dieben ist, spricht er es einem weiteren Polizisten genenüber, in seiner totalen Verzweiflung und beinahe schon resignierend, schliesslich aus: “If you only knew what this means to me.”
Fahrraddiebe von Vittorio de Sicca zeichnet ein fast schon erschreckend pessimistisches Porträit der sozialen Realität Nachkriegsitaliens. Die Strassen Roms sind voller Menschen, doch die wenigsten von Ihnen haben einen gesicherten Job - umso erfreulicher für Antonio, als er eines Tages stolz nach Hause kommt und seiner Frau verkünden kann er habe soeben eine Arbeitsstelle als Plakatierer erhalten, für den er jedoch sein Fahrrad von der Pfandleihe zurückkaufen müsse. Doch sofort wird er von ihr auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als sie ihm vorwirft wieso er es überhaupt verpfändet habe, denn so muss sie schliesslich die Bettlaken im Austausch für das Fahrrad opfern. Dass ohne das Verpfänden des Fahhrades vermutlich wochenlang kein Essen auf dem Tisch gestanden hätte, wird dem Zuschauer schon in dieser einen Szene schmerzlich bewusst. Nur kurze Zeit später, als er bereits bei der Arbeit ist, wird ihm das Fahrrad von einer organisierten Bande gestohlen. In vollem Bewusstsein wie sehr die Existenz seiner Familie von dieser Arbeit, die er jedoch nur mit dem Fahrrad ausführen kann, abhängt, und wie sehr er in der Pflicht ist für seine Familie zu sorgen, jagt er den Dieben hinterher. Jedoch ohne Erfolg. Ab diesem Zeitpunkt begleiten wir Antonio und seinen Sohn Bruno auf ihrem Streifzug durch Rom, auf der Suche nach Verbündeten, nach Einzelteilen, und nach Hinweisen die sie zu den Dieben führen. Fortbewegungsmittel wie die Strassenbahn oder der Bus sind dabei ebenso randvoll wie die Strassen und Märkte auf denen sie nach dem Fahhrad suchen - es ist wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Und dann regnet es dann auch noch in Strömen, was die Suche zusätzlich erschwert. Immer wieder entdecken sie zwar kleine Anhaltspunkte oder verdächtige Gesichter, immer wieder werden sie jedoch enttäuscht, sitzen einem falschen Verdacht auf, geben die Suche aber nie auf. Doch je weniger er dabei vorankommen zu scheint, desto grösser wird sein Frust, und desto kürzer seine Geduld. In einem Moment, als er einen alten Mann aus den Augen verliert von dem er gehofft habe er könne ihn zum Dieb führen, gibt er seinem Sohn grundlos eine Backpfeife, weil er die Fährte verloren hat und der Sohn für einen kurzen Moment zu quengeln anfängt. Es ist die pure Verzweiflung die Antonio dazu getrieben hat, auch wenn es bereits in der Sekunde bereut als er mit der Hand ausholt. Die Liebe zu seinem Sohn macht de Sicca dann in der derauffolgenden Szene deutlich: um den alten Mann schneller aufzuspüren teilen Sie sich auf, und als Antonio am Flussufer entlang geht und die Schreie einer aufgebrachten Menge hört, als diese auf ein ertrinkendes Kind aufmerksam machen, rennt Antonio panikartig los und schreit nach Bruno, doch als er sich umdreht steht dieser gänzlich unversehrt auf einer Treppe. Als Wiedergutmachung lädt er ihn dann auch gleich auf ein Mozarella-Sandwich ein. In einer liebevollen wie witzigen Szene sieht man die Beiden dann zum ersten mal seit dem Diebstahl wieder gemeinsam und ausgelassen lachen.
De Sicca fügt hier einen weiteren Baustein ein, der zum Gesamtbild seiner zwar unmissverständlichen, aber dennoch eher subtil minimalistischen Inszenierung gehört: als der Junge reichlich unbeholfen sein Sandwich mit Messer und Gabel zu essen versucht, sieht er am Nebentisch eine reiche Familie beim speisen, und bekommt ein schlechtes Gewissen weil er das Sandwich schliesslich mit den Händen isst. Doch sein Vater nimmt ihm diese Zweifel, und ermutigt ihn zum reuelosen Genuss bei diesem aussergewöhnlichen Anlass. Es ist überhaupt eine der wenigen Momente im Film, in denen soetwas wie Optimismus aufblitzt: “There’s a cure for everything… except death” sind seine Worte am Tisch, die auch Ihn für einen Bruchteil alle Sorgen und Nöte vergessen lassen. Mit neuem Elan und Mut geht die Suche danach weiter, doch nicht ohne die Gewissheit, dass ein Versagen schlimme Konsequenzen mit sich ziehen würde. Und so geraten sie im wahrsten Sinne des Wortes vom Regen in die Traufe: bei einer Wahrsagerin, die Antonio zuerst nur müde belächelt hat als sie zu Beginn des Films noch von seiner abergläubischen Frau konsultiert wurde, versucht er schliesslich sein Glück, und holt sich in seiner völligen Hilflosigkeit einen Rat, da er einfach nicht mehr weiss was er noch tun soll. Doch auch dies bleibt ohne Erfolg. Als er, nach stundenlanger Suche, dann tatsächlich auf den Dieb stösst um ihn zu stellen, wird er von einer aufgebrachten Menge aufgehalten und zur Rede und in Beweislast gestellt. Die Menge, die hier beinahe einem Lynchmob gleicht, ist eine Metapher wie sie de Sicca desöfteren in seinem Film verwendet, und sich gleich für mehrere Zwecke zu nutzen macht: nicht nur erschwert es die Suche Antonios nach seinem Fahrrad und zeigt die enormen Dimensionen Roms, sondern symbolisieren auch die Anonymität der Gesellschaft in der sich der Einzelne verliert, und dessen Probleme in der Masse einfach untergehen. So geschieht es auch Antonio, der an jedem Ort den er aufsucht auf das Problem stösst dass einfach zuviele Menschen um ihn herumirren die die Suche erschweren - er wird einfach rücksichtslos weitergedrängt, mit der bitteren Erkenntnis, dass sich die Welt auch ohne Antonios Fahrrad weiterdreht, und keiner ausser ihm selbst etwas dagegen tun kann. So sind auch die kleinen Ausraster Antonios, seinem Sohn, aber auch den vermeintlichen Tätern gegenüber nur verständlich und menschlich, zeigen sie doch die absolute Machtlosigkeit, die Verzweiflung, aber auch den enormen Willen der in Antonio steckt, das wiederzubekommen was ihm genommen wurde. De Sicca spielt aber auch ganz subtil mit der Hoffung in diesem Film, die zwar omnipräsent ist, aber auch immer wieder zerstört wird, so z.B. auf dem Markt, auf dem Sie nach Einzelteilen des Fahrrads suchen und man hofft, dass der Rahmen, durch den Kratzer den Bruno beim putzen entdeckt hat, wiedererkannt werden würde, oder etwa, als er den tatsächlichen Täter erwischt, dann aber doch keine handfesten Beweise gegen ihn in der Tasche hat obwohl es für Antonio und den Zuschauer klar ist dass er der Dieb ist. Immer wieder steht er kurz vor der Auflösung, immer wieder wird er jäh enttäuscht. In der letzten Szene des Films kehrt Antonio, doch nicht ohne zuvor von heftigen Zweifeln geplagt zu sein, die Bürde um: er nutzt die Gunst der Stunde, als gerade ein Fussballspiel zuende geht und die Menschenmassen durch die Strassen und Gassen strömen, um ein einsames Fahhrad, welches herrenlos an einem Haus lehnt, zu stehlen. Doch de Sicca kennt kein Erbarmen: in einer zutiefst depremierenden Szene wird Antonio geschnappt, gedemütigt und aufgrund des barmherzigen Fahrradbesitzers schliesslich aber wieder frei gelassen. So zieht er mit Bruno, der die Szenerie vom Strassenrand aus verfolgt hat und immer noch völlig fassungslos und desillusioniert wirkt, da sein Vater zu dem geworden ist was er die ganze Zeit verbissen gejagt hat, schliesslich von dannen, im lethargischen Gleichschritt mit der anonymen Masse die gerade aus dem Fussballstadion strömt. Er hat den Kampf gegen das System verloren. Die Zukunft seiner Familie bleibt ungewiss. Ob er eine Wahl hatte? diese Frage muss sich wohl jeder selbst beantworten.
Neben Antonio ist sein Sohn Bruno die zweite Hauptfigur im Film - als Kind das sich der prekären sozialen Situation schon sehr bewusst scheint, wächst es in einer Gesellschaft auf die ihn bereits früh dazu zwingt Verantwortung zu übernehmen, für die Familie zu sorgen und Geld zu verdienen. Auch hier greift die unterschwellige Kritik in de Siccas Inszenierung: wie selbstverständlich putzt Bruno das Fahrrad seines Vaters, und hilft tagsüber bei einer Tankstelle aus um sich ein paar Groschen dazuzuverdienen. Oder auch in jener Szene, kurz bevor Antonio das Fahrrad gestohlen wird, schwenkt die Kamera über die Strasse und verfolgt ganz beiläufig zwei Kinder die einem vornehmen Herren hinterher stiefeln und offensichtlich um eine milde Gabe betteln. Immer wieder zeichnet de Sicca solche harten Kontraste zwischen Arm und Reich, und lässt dadurch die Sorgen und Nöte der ärmlichen Familie umso gewichtiger und nachvollziehbarer erscheinen, und baut somit auch die Distanz zu den Figuren innerhalb kürzester Zeit ab. Es bleibt einem zwar fast keine andere Wahl als mit Antonio und Bruno zu sympathisieren, doch nie überdreht de Sicca die Schraube in Richtung blinder Betroffenheit oder aufdringlichen Kitsch, sondern bleibt im Rahmen seiner kleinen Geschichte immer ehrlich seinen Figuren und dem Zuschauer gegenüber. Zuletzt hätte man Antonio sogar gegönnt, dass er nach dieser kräftezehrenden und depremierenden Suche das gestohlene Fahrrad mit nach Hause bringt. Diese vereinnahmende Wirkung wird, neben den grossartigen schauspielerischen Leistungen von Vater und Sohn, Amateure übrigens, darüber hinaus vor allem durch die Originalschauplätze geprägt: sie vermitteln nicht nur Authenzität, sondern sind zugleich auch wunderschöne und beeindruckende Kulisse für die zahlreichen Stationen auf Antonios Suche.
Das Schicksal der beiden berührt und trifft tief, weil de Sicca einfache und bescheidene Leute mit bescheidenen Ansprüchen zeigt, und sich dabei auch nicht in pauschalen Schuldzuweisungen oder Fingerzeig übt, sondern schlichtweg dokumentiert wie ein Mensch durch das Netz eines maroden Systems fallen kann ohne aufgefangen zu werden. So ist die Suche Antonios nach seinem Fahrrad nicht zuletzt auch einfach nur eine Suche nach Gerechtigkeit und nach sozialem Halt, und macht Fahrraddiebe somit auch ein zu einem typischen Vertreter des neorealistischen Films. Selten hat ein Film seine kritische Botschaft so deutlich, gleichzeitig aber auch so unprätentiös, unaufdringlich, ungeschönt, unkitschig und inszenatorisch so vereinnahmend an den Zuschauer gebracht. Eine Meisterleistung.
Am 25. Januar 2008 um 23:45 Uhr
Wie hast du den denn gesehen? Kam er im TV?
Am 29. Januar 2008 um 15:18 Uhr
dvd!