Eine Ode an das Kino

Freitag abend, 18 Uhr. Die Sonne scheint. Nach zwei Tagen, die man aufgrund unberechenbarer Wolkenbrüche, und dank eines katholischen Feiertages und Brückenurlaubstages zum Grossteil zuhause verbracht hat, sehnt man sich nach draussen. Ganz egal wohin, hauptsache raus. Luft schnuppern, andere Leute sehen, nicht in den Spiegel gucken müssen. Kino ist unser erste Gedanke. Vielleicht nicht der naheliegendste, aber doch, eigentlich schon, es wäre immerhin das erste mal in diesem Jahr. Und irgendwann muss man ja den anhaltenden Kino-Verdruss bekämpfen, wieso also nicht gleich heute damit anfangen. In den Biergarten sitzen kann jeder, erst recht wenn die Sonne scheint. Aber das Kino dürften wir heute für uns alleine haben, da bin ich mir fast sicher, quasi als temporäre Auslagerung des Wohnzimmers, nur eben mit unbequemeren Stühlen und Popcorn. Wer geht denn schon an einem sonnigen Freitag abend ins Kino? Eben. Die Wahl fällt schliesslich gegen Sunshine Cleaning, auf Gran Torino, bei dem ich das Gefühl habe, der letzte Mensch im Freundeskreis zu sein der ihn zu Gesicht bekommt. Woher der anhaltende Kinofrust in diesem Jahr? Preise? Angebot? Mangel an Originaltonvorstellungen? So genau weiss ich es eigentlich auch nicht, vielleicht ist es manchmal auch einfach nur die pure Bequemlichkeit, die einen ins Sofa, ins Heimkino, zementiert. Gran Torino läuft hier immer noch, weil Tübingen filmtechnisch, in vielen anderen Belangen sicher auch, Spätzünder ist, der Weltgeschichte um gefühlte fünf Jahre hinterherhinkt. Als schwäbische Provinzhaupstadt ist das wohl einfach so. In Tübingen ist die Welt noch in Ordnung, wenn überall auf der Welt Türme einstürzen.

Als wir das Kino so gegen halb elf erreichen, sehen wir niemanden ausser Boris Palmer, unseren prominenten grünen Bürgermeister, im schwarzen Anzug und mit rotem Hemd vor dem Kino telefonierend auf- und abwuseln. Vermutlich telefoniert er gerade seiner Begleitung nach. Alleine im Kino? Wir fürchten, dass daraus wohl doch nichts werden wird - er wird sich ja wohl nicht etwa “Nachts im Museum 2″ anschauen? Wohl kaum. Clint Eastwood? Schon eher, sein rebellischer Charakter aus früheren Filmen wird ihn womöglich an seinen Vater erinnern. Oder etwa “Das Palmer-Prinzip”, eine Dokumentation über seine ersten Tage im Amt als Tübinger Bürgermeister? Nein, die läuft sowieso nur im Kino Museum, und überhaupt, soviel Eitelkeit traue ich ihm auch wieder nicht zu. Zwei mal Kino 3 bitte. 6.30,- pro Karte? Ich war wirklich schon lange nicht mehr im Kino. Frisches Popcorn - damit kann man mich noch in (fast) jedes Kino locken: 1.80,- für eine kleine Portion, passt. Konsumzwang hin oder her, Popcorn muss sein. Ich esse das immer auf bevor der Film überhaupt richtig angefangen hat. Boris hat inzwischen seine Begleitung gefunden. Ein Kerl ähnlichen Alters, nur wesentlich lässiger vom Äusseren her, mit Jeans, Lederjacke und so. Ein wenig sieht Boris dagegen aus wie ein frisch gebackener Konfirmand mit frühreifem Bartwuchs.

Ist Kino 2 schon geöffnet? Fragt Boris. Kino 2?? schreit es gedanklich aus mir heraus. Läuft Star Trek wirklich in Kino 2? Fragt Boris seine Begleitung, und legt einen ungläubigen, fast kritischen Gesichtsausdruck auf, fast so als wolle er damit sagen, dass ein Film wie Star Trek doch gefälligst in Kino 1, traditionell das grösste, schönste und technisch versierteste Kino, gehöre. Sieh an, der Herr Palmer, ein verkappter Trekkie also. Naja, so ein bisschen sieht sein Anzug heute ja auch aus wie eine Uniform, und sein sicherlich riesiger, massiver Schreibtisch im Tübinger Rathaus ähnelt bestimmt einer Kommandobrücke, zumindest für seine Untergebenen. Wieso also eigentlich nicht, von Star Trek kann man sicher auch was lernen. Vielleicht ist der Raumschiffantrieb ökologisch besonders wertvoll? Das Foyer füllt sich indes nur sehr langsam. Zwei Rentner-Pärchen betreten das Kino. Star Trek oder Nachts im Museum 2? eher nicht.

Kino 3 ist spärlich besetzt, in jeder Reihe zwei bis drei mittig platzierte Leute, ausser in den ersten paar Reihen direkt vor der Leinwand. Von Boris natürlich keine Spur, dafür aber, wie zu erwarten, die Rentner, die sich wie Teenager selbstbewusst in der letzten Reihe platzieren. Wollen die etwa knutschen? witzeln wir noch, unsicher ob es bei diesem übersichtlichen Publikum bleiben wird. Aus dem Wohnzimmer wird zwar leider nichts mehr, aber die Stimmung ist bisher trotzdem sehr angenehm. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel: vor uns sitzt erfreulicherweise niemand mehr, doch neben uns ein junges Pärchen, wild fotografierend, mit den Handys rumspielend und strümpfig. Die haben doch tatsächlich alle beide ihre Schuhe auszgezogen und ihre Füsse auf die Sitzpolster vor ihnen geparkt. Soviel also zur Kampfzonenausweitung - hier sind im Gegensatz zu uns wohl echte Profis am Werk. Hoffentlich ist von denen im Laufe des Abends nichts unzüchtigeres mehr zu erwarten.

Es läuft die typische Kinowerbung. In Tübingen meist angenehm kurz und unaufdringlich. “Der Womanizer - Die Nacht der Ex-Freundinnen” mit Matthew McConaughey ist der erste Film der angetrailert wird. Hm, Zielpublikum verfehlt, würde ich mal sagen. Sieht nach einer stinkbanalen typisch hollywoodmässigen RomCom aus. Erstes, aber noch etwas zurückhaltendes Gekicher aus der letzten Reihe. Zurecht. Es folgt der Trailer zu Ice Age 3 - okay, durch Myazaki, Pixar und Dreamworks haben wir gelernt, dass Animationsfilme durchaus für alle Altersklassen Reize bieten. Aber Ice Age? der gehört trotzdem irgendwie eher in die jugendliche Abteilung, finde ich jedenfalls. Aus dem Gekicher wird ausgelassenes Gelächter. 1-2 witzige Szenen hat der Trailer ja schon. Und in 3D wird er, wenn auch nur in wenigen Kinos, auch noch zu sehen sein. Nächster Trailer. “Hanna Montana - The Movie” What the fuck? Die Zweifel, aus dem gesamten Publikum, sind jetzt deutlich hör- und spürbar - die Sitzreihen beben. Die Rentner wundern sich lautstark, ob das denn wirklich ein Film für Erwachsene sei. Man könne es sich nicht so recht vorstellen.

Das Logo von Village Roadshow Pictures erscheint. Endlich. Ein verlassener Schulhof ist zu sehen. Schnitt auf einen Jungen der, alleine für sich, in einer Turnhalle Basketbälle im Netz versenkt. Soweit, sogut? Der Name des Films erscheint schliesslich langsam aber in grossen und deutlichen Lettern auf der Leinwand: “17 Again”. What the…? Ein Raunen geht durchs Publikum, das an diesem Abend aus vielleicht 15-20 Leuten besteht. Tuscheln, aus allen Reihen. man spürt förmlich wie der Adrenalinpegel das Gefühlsbarometer zum Ausschlag bringt. Nach gefühlten 2 Minuten, in denen ich mich selbst erst noch etwas sammeln und die Augen freireiben, und durch panikartigem Blick auf die Kinokarte (”Kino 3 - Gran Torino - stimmt doch!”) versichern musste dass nicht wir uns, sondern der Film sich im Kino geirrt hat, bin ich schliesslich aufgestanden, wortlos über das strümpfige Paar gestolpert, und zurück ins Foyer um Meldung zu machen, dass man hier wohl die falsche Filmspule erwischt hätte. Zurück im Kinosaal war die Stimmung inzwischen irgendwo zwischen angespannt und ausgelassen angekommen, aber auch sichtlich erleichtert, dass sich jemand kurzerhand erbarmt hat zu reagieren um Schlimmeres zu verhindern.

Der Filmvorführer, ein kleiner, leicht untersetzter und vollbärtiger Oldtimer der Tübinger Kinos, kam schliesslich, mit hochrotem Kopf, und überhaupt total verschwitzt, in den Saal gebraust. Er entschuldigt sich beim Publikum - bei der Spätvorstellung und 32 Grad Celsius in der Vorführkabine könne so ein Missgeschick leider mal passieren. Vergeben und Vergessen. Nach einer vorsichtigen, aber offensichtlich scherzhaft gemeinten Rückfrage, ob man denn nicht vielleicht doch “17 Again” sehen wolle, die dann aber mit einem lautstarken kollektiven Nein! abgeschmettert wurde, ist er dann wieder von dannen gezogen, mit der freundlichen Bitte um fünf Minuten Geduld für den Spulenwechsel. Dafür würden wir dann aber auch eine ganz neue, sicherlich passendere Trailervorschau, und einen guten (was durch ihn unmissverständlich betont wurde) Film von ihm serviert bekommen. Seine Annahme, die Mehrheit von uns würden das “spektakuläre Ende” ja eh schon kennen, woraufhin er sich in seinem Eifer und seiner Begeisterung, die er bezüglich dises Films offensichtlich hegt, dann plötzlich zu erzählen begann, wurde jedoch sofort wieder empört abgeschmettert - auf Spoiler hatten wir in dem Moment keinen Appetit, obwohl das Popcorn zu diesem Zeitpunkt bereits längst verdaut war. Mit einem letzten Verweis, doch bitte auch auf die meisterlich eingewobenen Zwischentöne zu achten, ward er schliesslich wieder verschwunden. Jetzt freuten wir uns erst recht auf den Film - hatte er doch den Segen des Vorführers erhalten. “State of Play”, sowie der von mir bereits sehnsüchtig erwartete “Public Enemies” von Michael Mann, liefen dann als zweite Vorschau. Geht doch.

Der Film selbst wirkte zunächst, nach all dem Towuhabohu im Vorfeld, dann doch eher unspektakulär. Auf angenehme Art und Weise. Wie die späten Eastwoods halt nunmal sind: präzise und ruhig inszeniert, durchaus typisch amerikanisch, altersweise, vielschichtig, und stellenweise sicherlich auch etwas überkonstruiert und durch Eastwoods Hang zur Selbstinszenierung auch nicht makellos (viel weniger jedoch als noch im ärgerlich klischeehaften “Million Dollar Baby”, wo er sich weitaus weniger ambivalent und selbstironisch gab). Aber auch ein Film, dessen durchaus überraschende emotionale Wucht uns Beiden am Ende die Tränen in die Augen getrieben hat. Das Schaffen nur wenige. Respekt hierfür, diesen Nerv hat er mit seinem besten Film seit “Unforgiven” wirklich voll getroffen. Eastwood trägt seine Figur(en), die hier irgendwo zwischen Travis Bickle aus Taxi Driver, dem Namenlosen aus den Sergio Leone Western, und Dirty Harry divergiert, und damit auch eine letzte Verbeugung vor der “alten Schule”, der alten Garde Hollywoods macht, ehrwürdig zu Grabe. Clint Eastwood wird nächste Woche 79 Jahre alt - er kann dem Tag gelassen entgegensehen, denn er muss sich nichts mehr beweisen: mit Gran Torino hat er alles (über sich und sein Kino) gesagt was er zu sagen hat.

Gran Torino ist in den Lesercharts des Schwäbischen Tagblatts seit Wochen unangefochten auf #1. Kein Wunder, wenn der illustre Kinobesuch so ausfällt. Die besten Geschichten schreibt eben immer noch das Kino. So oder so.

2 Reaktionen zu “Eine Ode an das Kino”

  1. Karsten

    “Die besten Geschichten schreibt eben immer noch das Kino. So oder so.” Oder so: http://www.annyas.com/screenshots/film-noir/

  2. marc

    ui, das sehe ich ja jetzt erst - vielen dank karsten für den link!

Einen Kommentar schreiben